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GESUNDHEIT & VITALITÄT

Ein Leben voller Intensität

Sabine Schneider, 57, hat früh gespürt, dass sie sich von anderen unterscheidet. Ihre Hochsensibilität schenkt ihr tiefe Empathie und eine starke Intuition. Doch sie bringt auch Herausforderungen mit sich. Von Mag. Susanne Zita

Schon als Kind hatte Sabine Schneider das Gefühl, aus der Reihe zu tanzen. Während andere sich auf Geburtstagsfeiern austobten, fühlte sie sich fehl am Platz. Auch im Teenageralter mochte sie keine lauten Partys und zog es vor, in kleiner Runde zu sein. 

Doch sie war nie eine Außenseiterin. Menschen spürten instinktiv, dass sie ihr vertrauen konnten. Und besonders ihre Fähigkeit, Stimmungen in einem Raum sofort wahrzunehmen, war schon früh ausgeprägt. Mit 57 Jahren blickt sie heute auf einen Lebensweg voller Erfahrungen zurück. 

Viele glauben, hochsensible Menschen sind immer introvertiert; es gibt jedoch auch extrovertierte wie sie. Die Wienerin liebt den Austausch mit anderen, Menschenmengen und laute Umgebungen sind für sie aber eine Herausforderung. In der Natur findet sie die Ruhe, die sie braucht – am liebsten mit Hündin Lina. Ihr erster Hund Balu war ebenso eine wichtige Stütze für sie, ein „Souldog“. Spaziergänge durch das Helenental oder bei Baden sind für sie wie eine Meditation, besonders wenn die Emotionen überhandnehmen. 

Bipolare Störung – Eine Reise zu mehr Stabilität 
Nach mehreren Arztbesuchen wurde ihr klar: Sie ist nicht wie andere. Doch bevor man ihr Hochsensibilität attestierte, wurde zunächst die Diagnose „bipolare Störung“ gestellt. Anfangs ein Schock für die Wienerin. Doch mit der Zeit verstand sie, dass sie ihr Leben anders gestalten musste. „Denn eine depressive Episode dauerte oft fünf Wochen. Das war schon immer sehr schwierig für mich“, schildert sie die harten Zeiten. 

Seit 2008 ist sie medikamentös eingestellt, und ihr Mann Andreas immer eine große Stütze. Die größte Liebeserklärung? „Ich habe ihm einmal gesagt, es geht mir gerade gut, aber ich fürchte mich vor dem nächsten Tief. Seine Antwort hat mich sehr berührt. Er meinte: ,Das wird auch so sein, aber die Zeit bis dorthin genießen wir.’“ Der Psychiater diagnostizierte eine Mischphase der bipolaren Störung, in der manische und depressive Symptome gleichzeitig oder in schnellem Wechsel auftreten. 

Betroffene können sich dabei gleichzeitig getrieben und mutlos, euphorisch und verzweifelt fühlen. Diese Zustände sind oft schwer zu erkennen. Die Gefahr für suizidale Gedanken und Handlungen ist in Mischphasen besonders hoch, weshalb eine frühe Diagnose und angemessene Behandlung entscheidend sind. Doch Sabine Schneider spürte bald, dass noch etwas hinzukommt. Sie ist hochsensibel. Eine Herausforderung. 

Denn die Mischung aus Hochsensibilität und der bipolaren Störung ist komplex. Plötzlich können Reize überwältigend wirken – seien es Duftstoffe, Menschenmengen oder laute Umgebungen. Sie mag es, in Gruppen unterwegs zu sein, manchmal kippt aber das Wohlgefühl von einer Sekunde zur nächsten in ein Unwohlsein. 

Um das auszugleichen, hat die Tierfreundin gemeinsam mit einem Coach für Hochsensibilität Strategien entwickelt: Sie plant bewusst Ruhetage vor und nach intensiven Unternehmungen ein und achtet darauf, mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. „Ich konzentriere mich darauf, dass ich eine Verbindung zum Boden habe, als würden mir Wurzeln wachsen.“ 

Hochsensibilität als Geschenk 
So herausfordernd ihre Empfindsamkeit manchmal ist – sie sieht darin auch ein großes Geschenk. Ihre starke Intuition täuscht sie nie. Sie ist Vertrauensfrau in einer Selbsthilfegruppe für bipolare Störungen namens Wellenreiter und hat für andere immer ein offenes Ohr. „Obwohl ich mich oft anders fühlte, war ich nie wirklich einsam“, betont sie. Lieder von Howard Carpendale seien beruhigend, wenn ihr alles zu viel wird. „Nimmt mein Mann mich in die Arme, vergesse ich die Welt um mich herum. Er kocht gerne für mich, und gemeinsam genießen wir ausgedehnte Spaziergänge“, erzählt sie. 

Auch im Job für andere da 
Früher beruflich als U-Bahnaufsicht bei den Wiener Linien tätig, konnte sie sich keinen besseren Job vorstellen. Die Tätigkeit brachte Struktur, Verantwortung und viele Begegnungen mit Menschen, was ihrer extrovertierten Seite entsprach. Doch mit der Zeit wurde ihr klar, dass sie sich aus dem Jobleben zurückziehen musste. Heute arbeitet sie nicht mehr. Gerne blickt sie aber auf ihre Berufslaufbahn zurück. 

Schlüssel liegt in der Balance 
Sabine Schneider hat gelernt, ihre Sensibilität als Stärke zu nutzen. Ihre Selbstzweifel sind nicht verschwunden. Jedoch weiß sie heute, dass ihr ihre hochsensible Seite viel Gutes ins Leben gebracht hat. Der Schlüssel liegt in der Balance: Leben, aber auch Ruhe. Austausch, aber auch Rückzug. Und immer mit der Gewissheit, dass sie nicht einsam ist – sondern mit ihrem Mann, in der Selbsthilfegruppe oder in der Natur, in die sie sich jederzeit zurückziehen kann. Sie ist dankbar für jeden guten Tag. Der Schlüssel zu ihrem Glück.

“Feine Antennen für die Stimmungen anderer” - Lilli Mahdalik, klinische Psychologin in Wien-Döbling, psychologista.at

Hochsensibilität ist keine offiziell anerkannte medizinische Diagnose, sondern eher ein Persönlichkeitsmerkmal. Dennoch gibt es verschiedene Möglichkeiten, sie zu identifizieren. Welche sind das? 
Ja, das Thema der Klassifizierung ist noch in Diskussion. Der HSP-Fragebogen (Highly Sensitive Person Scale) fragt die entscheidenden Kriterien der Hochsensibilität ab. Entwickelt wurde er 1997 von Elaine Aron, die alle Grundlagen zur Erforschung der Hochsensibilität erarbeitete. Spezialisierte Psychologinnen und Psychologen können durch gezielte Erhebung ebenfalls die Hochsensibilität abfragen, da sie über ausreichend Erfahrung verfügen. 

Auch wenn die Wissenschaft die Zuordnung und das Konzept der Hochsensibilität noch kontrovers diskutiert, gibt der Begriff vielen Betroffenen Sicherheit. Was bisher als „Empfindlichkeit“ abgetan wurde, ist plötzlich Forschungsgegenstand und betrifft viele Menschen. Die „Diagnose“ hilft ihnen, sich selbst zu verstehen und dem Umfeld ihre Bedürfnisse erklären zu können. 

Ist Hochsensibilität angeboren? 
Auch hierüber streiten sich die Expertengruppen. Auf der einen Seite gibt es Hinweise, dass Hochsensibilität ein angeborenes Temperament darstellt. Bei Untersuchungen mit Babys lassen sich Unterschiede darin feststellen, wie stark sie auf Reize wie Licht und Geräusche reagieren. Die andere Fraktion sieht Hochsensibilität eher als eine genetisch angelegte Persönlichkeitsfacette, die erst durch Erfahrungen wie Stress und Überforderung stärker wird. 

Wie kann man sie im Beruf als Stärke nutzen? 
Da die inneren und äußeren Reize sehr stark und ungefiltert erlebt werden, ist auch das musische und künstlerische Empfinden häufig sehr stark. Außerdem bestehen feine Antennen für die Stimmungen anderer Menschen und ganzer Gruppen. Unter den Wissenschaftern werden hochsensible Menschen gerne mit Orchideen verglichen. Auf ungünstige Bedingungen wie Temperatur und Feuchtigkeit reagieren sie besonders empfindlich, unter idealen Bedingungen blühen sie dafür schöner als alle anderen. Sie sind also in kreativen Berufen oft herausragend und in sozialen Berufen sehr talentiert. Wichtig ist für sie jedoch immer, auf Ruhezeiten und Abgrenzung zu achten.

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