- Frau Prof. Kautzky-Willer, ist in unserem Gesundheitssystem bislang etwas falsch gelaufen?
In gewisser Weise ja, denn einem so wichtigen Gesundheitsfaktor wie dem Geschlecht wurde lange Zeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Daher sind in Studien auch hauptsächlich Männer untersucht worden. Das kann aber fatale Folgen haben, wie z.B. nachträgliche geschlechtsspezifische Auswertungen für das Medikament Digoxin gegen Herzschwäche gezeigt haben. Während Männer von der Therapie profitierten, kam es bei Frauen unter bestimmten Bedingungen sogar zu einer höheren Sterblichkeit. Bei Frauen muss die Behandlung daher besonders vorsichtig begonnen werden, und sie benötigen meist eine niedrigere Dosierung.
- Was hat sich denn im Bereich der Studien und klinischen Tests schon geändert?
Es wird nun z.B. besonders darauf geachtet, dass Substanzen, die künftig als Medikamente Frauen und Männern zur Verfügung stehen sollen, auch wirklich an beiden getestet werden. Das ist wichtig, da gerade ältere Frauen besonders häufig Medikamente verordnet bekommen.
- Sie sind Diabetes-Expertin, inwiefern hatten Sie in Ihrem Fachbereich schon mit Gender-Medizin zu tun?
Biologische Unterschiede spielen bei Diabetes ebenso wie der Lebensstil eine große Rolle – das macht ihn zu einem wichtigen Gebiet der Gender-Medizin. Ein frauenspezifisches Krankheitsbild, dem bislang viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde, ist z.B. jener Diabetes, der in der Schwangerschaft auftreten kann. Er stellt eine Art Vorstufe des Altersdiabetes dar, betroffene Frauen müssen daher entsprechend betreut werden. Aber auch das Risiko für Komplikationen in der Schwangerschaft steigt, ebenso wie das Risiko für chronische Erkrankungen im späteren Leben der Kinder. Ich habe mich daher besonders dafür eingesetzt, dass der Zuckerbelastungstest endlich Teil der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen ist. Seit 2010 ist das auch der Fall. Wichtig ist auch, dass der hormonell bedingte Gefäßschutz, den Frauen üblicherweise vor der Menopause durch Östrogene haben, durch Diabetes abgeschwächt wird und Frauen mit Diabetes daher ein hohes Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle, aber auch Nierenerkrankungen haben.
- Es wird gesagt, dass Frauen mit Ihren Symptomen weniger ernst genommen werden und auch weniger Therapien erhalten – sind Sie diesbezüglich auch aktiv?
Selbstverständlich. Krankheitssymptome sind ein wichtiger Punkt, weil sie teilweise von Frauen und Männern unterschiedlich wahrgenommen und berichtet werden. Aber auch die Kommunikation zwischen Behandeltem und Behandler ist von der jeweiligen Geschlechterkonstellation beeinflusst. Für unterschiedliche Krankheitssymptome ist der Herzinfarkt das klassische Beispiel. Man weiß inzwischen, dass es bei Frauen auch atypische Symptome wie Schwäche, Atemnot und Bauch-, Rücken- oder Kieferschmerzen geben kann. Depressionen wiederum werden bei Männern oft nicht erkannt, da diese dann oft zu Aggressionen und vermehrter Alkoholsucht neigen.
- Frauen haben eine höhere Lebenserwartung als Männer – wird eine Medizin, die sich mehr auf die Frauen einlässt, die Kluft in Sachen Lebenserwartung weiter vergrößern?
Nein, denn Ziel der Gender-Medizin ist ja, für beide Geschlechter das Bestmögliche zu erreichen. Die längere Lebenserwartung der Frauen von zirka sechs Jahren in Europa beruht hauptsächlich auf sozialen und Umweltfaktoren. Der höhere Alkohol- und Nikotinkonsum der Männer und ihr risikoreicherer Lebensstil, insbesondere Arbeits- und Sportunfälle, machen den Großteil des Unterschiedes aus. Frauen passen sich allerdings zunehmend dem „männlichen Muster“ an, weswegen die Unterschiede geringer werden. Außerdem nehmen Übergewicht und Diabetes, die für eine Reihe von Gesundheitsschäden verantwortlich sind, bei beiden Geschlechtern, aber insbesondere bei Frauen zu. Ich denke, dass es vor allem darum geht, die Lebensqualität aller zu verbessern. Denn Frauen leben zwar länger, aber sie sind schlechter versorgt, haben mehr chronische Krankheiten und einen schlechteren Gesundheitszustand.
Frauengesundheit in Zahlen
- Frauen leben durchschnittlich 5,4 Jahre länger als Männer.
- Frauen werden statistisch gesehen 83 Jahre alt, Männer 77,6 Jahre.
- Häufigste Todesursache (48 %) sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
- Häufigste Krebserkrankung ist der Brustkrebs (28 % der Krebsneuerkrankungen).
- Viele chronische Erkrankungen sind im Alter häufiger: z.B. Osteoporose (20 % der Frauen, 8 % der Männer).
Quelle: Österreichischer Frauengesundheitsbericht 2010